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Von Superhelden und Heiligen

Wollten Sie je Superman oder Wonder Woman sein? Übermenschliche Kräfte besitzen? Täglich Heldentaten vollbringen? Dachten Sie jemals daran, der Eintönigkeit Ihres Lebens durch eine geheime Identität als außerirdischer Held zu entkommen?

Der Künstler Wilfried Gerstel gibt Ihnen die Möglichkeit, sich intensiver mit Ihren Wunschvorstellungen zu beschäftigen. Würde es sich denn tatsächlich lohnen, ein Superman oder eine Wonder Woman zu werden?

Die Serie der Nothelfer zeigt uns das Leben von Superman und Wonder Woman.
Sie sind als Person leicht erkennbar, aber die Welt der Menschen um sie herum ist uns fremd. Denn es ist eine Welt, so wie sie die Künstler vor 900 Jahren dargestellt hatten. – Eine Welt, umgeben von Wundern, Mysterien und Monstern.

Sind Superhelden im Grunde normale Menschen, die ein außergewöhnliches Maß an physischen und moralischen Kräften besitzen?
So scheint es uns auf den ersten Blick zu sein. Muskulös, schnell, weitsichtig, intelligent. Vielleicht braucht man nur Stunden in Fitness Centern und Bibliotheken zu verbringen, um Superheld zu werden?
Aber damals, im Mittelalter, war es anders. Superhelden waren eigentlich Gestalten, die ausgerechnet keine körperlichen Kräfte ausnützten, Gestalten, die ihrem physischen Wesen sogar entsagten.

Wilfried Gerstel bringt diese zwei Welten zusammen, die alte und die gegenwärtige, um damit Fragen auszulösen.

Wer einmal in einem Museum für mittelalterliche Kunst mehr als zehn Minuten verbrachte, wer jemals einen der großartigen romanischen Dome besucht hat, wird sofort den Wortschatz des Künstlers Gerstel erkennen. Den Wortschatz, durch den er seine Bemerkungen über Superhelden und Menschen macht. Sie werden sehen, daß er ihn oft boshaft, manchmal liebevoll, manchmal auch ironisch benützt. Er stellt alles in Frage, was man vielleicht nicht in Frage stellen darf. Die Sprache des Mittelalters wird zum höchst kritischen Untersuchungsinstrument, um das zeitgenössische Verhalten des Menschen zu erforschen.

Die Neuerzählung der Geschichte Supermans findet also in einer Welt statt, die höchst gläubig sein sollte. Eine Welt, in der Menschen Heilige anbeten, für alles, was man im Notfall brauchte oder wollte. Das Anbeten machte selbst vor Gebeinen nicht halt.
In dieser Welt mußte Gott ein strenger und stets präsenter Vater gewesen sein, weil die Menschen sich schwach benommen hatten.

Da taucht Superman auf. Superman kennt den Unterschied zwischen Gut und Böse, ohne auch nur eine Sekunde darüber nachdenken zu müssen. Aber nicht nur das, er handelt auch streng in diesem Sinn, fördert nur das Gute.
Superman benutzt seine Superkräfte, um jedem helfen zu können, der es braucht, sogar auch dann, wenn das Objekt seiner Hilfe gar nicht weiß, daß es Hilfe benötigt. Superman hat schon viel, was Menschen oft fehlt.

Das heißt allerdings nicht, daß ein Superman oder eine Wonder Woman es leicht hätten. Denn sie sind nichtmenschliche Kreaturen, die sich entschlossen haben, den Menschen Hilfe zu leisten.
Das ist ihre Rolle, ihr Ziel, genauso wie es damals die Rolle der Heiligen Barbara, einer Heiligen Katharina oder eines Heiligen Christophorus war. (Streng genommen dürfte man diese beliebten Heiligen seit 1969 nicht mehr anbeten, denn sie wurden seit dem II. Vatikanischen Konzil aus dem Heiligenkalender gestrichen, als „historisch nicht begründbar“).

Aber: Wir Menschen sind in unseren Handlungsweisen schwer zu verstehen. Wie muß es wohl den Nothelfern ergangen sein, als sie unter den Menschen lebten?
Genießt Superman es, seine Superkräfte auszunützen? Paßt der Begriff „Genuß“ überhaupt zu ihm?
Superman versteht nur allzugut, daß er irgendwie anders ist als die Menschen.
Gerstels Wandfliesenreliefs zeigen uns, wie der Held selbst über diese Fragen nachdenkt. Philosophiert. Haben Sie sich je Superman als Philosophen vorgestellt?

In einem komfortablen Haus, das uns an italienische Malerei erinnert, beobachtet Superman ein Festgelage von glücklichen Menschen, die essen, trinken, Musik hören. Sogar Trauben hängen über dem Dach in Hülle und Fülle.
Superman steht draußen vor der Tür und schaut verwirrt, fast unglücklich hinein. Wie ist das zu verstehen? Er, der Superheld, braucht kein Essen, muß nicht trinken. Jede Spur von Sinnlichkeit ist ihm erspart. – Gott sei Dank?
Er schaut die sinnenfrohen Menschen an und stellt sich plötzlich die Frage, ob es nicht doch ein Fluch sei, am Sinnlichen nicht teilnehmen zu können. Ist es ein Segen, genau das nicht genießen zu können, was den Menschen so klar definiert? Seine Sinnlichkeit? Ist Sinnlichsein gut oder böse? Ist es vielleicht nicht besser, die sinnlichen Genüsse des menschlichen Daseins zu genießen als Superkräfte zu besitzen?

Gerade das Entsagen vom sinnlichen Genuß hat die Menschen im Mittelalter fasziniert. Einfache Menschen schenkten ihr Vertauen den Heiligen, die „super“ waren, weil sie weder Essen, noch Getränke zu sich nahmen, weil sie sich von jedem menschlichen Genuß fernhielten, sich vollkommen passiv verhielten. Ja, auch das war damals ein Weg, Macht zu erlangen.

Ein kurzes Beispiel dazu:
In der toskanischen Stadt San Gimignano entschließt sich ein kleines Mädchen, das eine Vision erlebt hatte, sich auf ein einfaches Holzbrett zu legen, um dort den Rest seines Lebens zu verbringen. Keiner konnte es dazu bewegen, ein normales Leben zu führen. Nach ihrem Tod wurden ihre jungfräulichen menschlichen Reste in einem Glassarg ausgestellt. Das Mädchen wurde bald darauf von einfachen Menschen angebetet – als Santa Fina. Sie wurde von der Kirche auch tatsächlich heilig gesprochen und zur Schutzpatronin der damals mächtigen Stadt San Gimignano erklärt, wo auch heute noch ihr Glassarg steht.

Wenn Superman das Essen und Trinken nicht genießt, ist er natürlich auch von Habgier nicht besessen, welche die Menschheit quält. Warum muß jeder den anderen besitzen, fragt er sich in einem weiteren Bild.

Ganz in der Tradition eines Hieronymus Bosch scheut Wilfried Gerstel nicht davor zurück, uns die unangenehmsten menschlichen Verhaltensweisen zu zeigen.
„Dachte ich wirklich, ich könnte erfolgreich sein?“, fragt sich Superman, der von einer Unmenge an Dämonen erdrückt wird. Der Horror entsteht allerdings nicht durch Fabelwesen, sondern durch menschliche Taten und Verhaltensweisen.

Wußten Sie, daß auch Nothelfer sterben können?
Auch Superman stirbt und wird im letzten Bild zu seinem Vater auf den Heimatplanet Krypton emporgehoben. Denn im Endeffekt ist er auch ein Einzelner, und als solcher kann er die Menschheit von ihrem Egoismus und ihrer Habgier nicht erlösen.

Hatte sein Leben überhaupt einen Sinn?

„Das Problem, sagte Pa, ist der Mensch.“
Hunde lecken an seinen körperlichen Resten, während seine Seele nach Krypton getragen wird. Im Mittelalter wäre Superman erst mächtig geworden, nachdem er als Toter für betende Menschen Wunder vollbracht hätte.

Aber Superman hatte alle seine Wunder während seiner Lebenszeit vollbracht.
Vielleicht war er doch Mensch.

Pieter M. Judson
Professor für Geschichte am Swarthmore College
Philadelphia/Pennsylvania, USA